„Are you sure you really want to enter that building?“, fragt unser einheimischer Guide zum wiederholten Mal, als wir aus dem Wagen steigen und das bekannte, einsturzgefährdete Gebäude Phnom Penhs nun vor uns liegt. „Yes, definitely“, antworte ich. Schließlich verzichten wir dafür auf den Besuch des Königspalastes von Kambodschas Hauptstadt 😀
Dann fällt mein Blick auf ein Gebilde, welches gar nicht mehr so recht als Haus wahrzunehmen ist. Die etwa vier Etagen der ursprünglichen Gebäudestruktur aus den 60er Jahren, der sogenannten Neuen-Khmer-Architektur, verstecken sich hinter Anbauten, verziegelten Fenstern, Balkonen, Wellblech, Stoffen und Pflanzen. An einigen Stellen ergibt sich dadurch eine erstaunliche Schieflage des Bauwerks – die Statik des gesamten White Building ist durch Veränderungen, die die Bewohner selbst vorgenommen haben, bis hin zur akuten Einsturzgefahr verändert. Aber wir wollen etwas kennenlernen vom echten Leben der Menschen in Kambodscha, daher nehmen wir die kalkulierte Gefahr in Kauf.
Sofort sind wir drin im Gewusel vor dem Gebäude, und einige Kinder der etwa 500 Familien, die im White Building leben, springen um uns herum. Kleine Jungs posieren mit Spielzeugwaffen – jedenfalls hoffe ich, dass es solche sind – für Daniels Kamera.
Im Erdgeschoss des White Building befinden sich viele Geschäfte. Hier gibt es Ärzte, Friseure, Garküchen, halt alles, was man so zum Leben braucht.
Dabei hat das Haus eigentlich einen schlechten Ruf, denn es ist auch ein Zentrum von Drogendealern und Drogenmissbrauch, Prostitution und Armut.
Wir wagen uns den ersten Treppenabsatz hinauf. Überall liegen Scherben und Müll, zum Teil ist Stacheldraht gespannt, und von unten starren uns die Menschen auf der Straße neugierig hinterher. Die hygienischen Zustände wirken katastrophal und eins steht fest: Ein Paradies für Kinder ist das hier jedenfalls nicht!
Als wir jedoch auf der 2. Etage ankommen, traue ich meinen Augen nicht: Einige ältere Frauen sitzen in Hängematten im offenen Treppenhaus, eine von ihnen mit einem kleinen Baby auf dem Arm, und genießen den Nachmittag in der Gemeinschaft. Sie erzählen unserem Guide, dass das White Building für sie nicht nur ihr Zuhause ist, die Gemeinschaft sei wie eine große Familie. Es wird erzählt und gelacht, hier scheint es trotz des ärmlichen Umfeldes echte Lebensfreude zu geben und das steckt an.
1963 vom kambodschanischen Architekten Lu Ban Hap und einem französischen Ingenieur erbaut, erkennt man hier und da, dass die beiden sich vom berühmten französischen Architekten Le Corbusier haben inspirieren lassen. Daher wundert es nicht, dass das White Building ursprünglich für Künstler und Mittelständler geplant worden ist.
In den 70er Jahren, während der Schreckensherrschaft der Roten Khmer, wurde das Gebäude, wie übrigens die gesamte Stadt, völlig verlassen und stand leer. Bis sich 1979, nach dem Ende des Terrorregimes, Hausbesetzer im Gebäude festsetzten und einfach dort blieben. 2015 schätzte man die Gesamtbewohnerzahl auf 2500 Menschen. Nicht schlecht für ein Gebäude mit ursprünglich nur 468 1-Zimmer-Apartments.
Im nächsten Flur steht eine Apartment-Tür offen, und wir erhaschen einen kurzen Blick in ein kahles, fast unmöbliertes Zimmer, in dem aber ein Fernseher läuft. Für mich ist es auf Reisen immer wieder unglaublich faszinierend zu sehen, wie unterschiedlich die Menschen auf der Welt sprichwörtlich „hausen“. In Kambodscha stehen zum Beispiel im ganzen Land, egal ob in Restaurants, auf Terrassen, an Garküchen oder in Wohnzimmern, die gleichen bunten Plastikstühle als Sitzgelegenheit, obwohl sie unfassbar unbequem sind. Der Hersteller scheint ein absolutes Monopol zu haben.
Im nächsten Treppenhaus können wir in einen der Hinterhöfe schauen: Parkplatz, Küche und Mülldeponie in einem. Ach ja, und drei der gerade erwähnten Plastikstühle.
Als wir uns vom Gebäude und seinen Bewohnern verabschieden, ahnen wir alle noch nicht, dass es ihr zu Hause, das White Building, neun Monate später nicht mehr geben wird. Im Oktober 2017 wird es geräumt und abgerissen, da es einem modernen 21-stöckigen Hochhaus mit Parkhaus, Geschäften und privaten Apartments weichen soll. Und so wird zum wiederholten Male ein Stück von Phnom Penhs traditionellem Lebensstil ausgelöscht. Diese Nachricht stimmt uns wirklich traurig.
Fotos: Daniel Häker
Möchtest du noch mehr über die traditionelle Lebensweise der Khmer erfahren?
In meinem Artikel Kambodscha hautnah – Homestay bei einer traditionellen Khmer-Familie berichte ich von unserem mehrtägigen Besuch bei einer kambodschanischen Familie in Sambor Preikuk. Deine Julia
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3. Dezember 2017 at 20:44
Hallo Julia,
ein Gänsehaut-Artikel. Es ist immer wieder erstaunlich zu sehen, dass Menschen, die in für uns völlig inakzeptablen Verhältnissen leben, so viel Lebensfreude ausstrahlen können. Sie genießen einen Nachmittag im „Hausflur“ und reden miteinander, während an anderen Orten dieser Welt in weitaus wohlhabenderen Gegenden die Gartenzäune nicht hoch genug sein können.
Vielleicht ist weniger doch tatsächlich mehr?
Liebe Grüße
Magdalena
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3. Dezember 2017 at 21:35
Liebe Magdalena,
das sind Kommentare über die man sich als Bloggerin so richtig freut. „Gänsehaut-Artikel“…wow, vielen Danke für dieses großartige Kompliment! 😀
Wir besuchen ja gerne Orte, die auf den ersten Blick so gar nicht schön sind. Aber ich muss sagen, das kann wirklich heilsam sein diese Menschen, die unter so ärmlichen Verhältnissen leben, dort so glücklich und zufrieden zu sehen. Es bringt viele Dinge in ein richtiges Verhältnis und es macht einfach Spaß mit den Leuten einer fremden Kultur in ihrem Alltag in Kontakt zu treten. Davon erzähle ich am aller liebsten und es freut mich sehr, dass es dir gefällt!
Liebe Grüße, Julia
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