Es ist dunkel und kalt, Menschen schwirren hektisch an uns vorbei, sie tragen schweres Gepäck auf ihren Köpfen. Worte, deren Bedeutung ich nicht verstehe, schallen unaufhörlich und viel zu laut aus den Lautsprechern am Gleis, Männer pinkeln vom Bahnsteig ins Gleisbett, und wer zum Teufel ist dieser seltsame Mann, der nervös vor uns auf und ab geht und immer wieder versucht, uns in ein Gespräch zu verwickeln?!

Abfahrt Gwalior

Freitag, 5. Januar 2018, 20 Uhr am Abend, wir stehen am Gleis des Bahnhofs von Gwalior und warten auf den Bundelkhand-Express, der uns über Nacht ins 624 Kilometer entfernte Varanasi bringen soll. Immer wieder haben wir gelesen, dass Zugfahren zu einer Indienreise dazugehört, und wer kennt nicht die Bilder von überfüllten indischen Zügen, in denen Menschen während der Fahrt aus den offen Türen hängen und sich auf den Dächern quetschen. Den Spaß wollen wir uns nicht entgehen lassen – gut, dafür ist es heute Nacht vielleicht etwas zu kalt – dennoch wird es mit Sicherheit ein großes Abenteuer. Und auch die Tatsache, dass wir kein Ticket direkt von Agra nach Varanasi mehr bekommen haben, sondern den Umweg über Gwalior nehmen müssen, hält uns nicht von unserem Plan ab.

Aber natürlich sind wir aufgeregt. Werden wir schlafen können oder völlig gerädert in Varanasi ankommen? Mit welchen fremden Menschen teilen wir das Abteil? Ist es wirklich so schmutzig und gibt es Kakerlaken? Kann man die Toilette benutzen? Gibt es etwas zu Essen an Bord?

Abteilsuche & Einsteigen

Plötzlich durchschneidet ein heller Lichtstrahl die Dunkelheit am Bahnsteig, gefolgt von einem tiefen Horn-Signal…unser Zug…jetzt wird es ernst. Wir schultern unser Gepäck und halten Ausschau nach dem richtigen Waggon. 2AC Tier, die zweitbeste Klasse haben wir gebucht, 4er Schlafabteil mit Klimaanlage. Den ganzen Bahnsteig laufen wir ab, bis wir ziemlich am Ende des Zuges die deutlich außen angebrachte Aufschrift 2AC entdecken. Ein Glück, der seltsame Mann von vorhin ist inzwischen verschwunden.

Stattdessen steigen einige Geschäftsleute und eine indische Familie samt Tochter mit uns ein. Wie alle Mädchen in Indien lächelt sie mich freundlich interessiert an, und ich beruhige mich etwas.

Als wir unser Gepäck im Abteil verstaut und uns eingerichtet haben, steht das Mädchen plötzlich vor uns. Juvika, 13 Jahre alt, möchte ein Foto mit mir machen – und daraus entwickelt sich eine abendfüllende Unterhaltung über Indien und Deutschland, die Unterschiede, Lieblingsorte, Reisen, Schule, Jungs und die erste Liebe in Indien, Hochzeit…die Stunden vergehen wie im Fluge und plötzlich ist es Mitternacht.

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Juvika verabschiedet sich, da sie gleich mit ihren Eltern aussteigen wird, und wir richten auf den beiden oberen Betten unser Nachtlager ein.

Das Nachtlager

Auf jeder Pritsche liegt eine Decke, ein Kissen und ein Laken. In weiser Voraussicht haben wir zudem einen Kopfkissenbezug und unsere Hüttenschlafsäcke aus Deutschland mitgenommen – sehr empfehlenswert, denn schon bei ungenauer Betrachtung möchten wir die gestellte Decke nicht unbedingt benutzen! Immerhin, das Laken ist einigermaßen sauber und so liege ich wenige Minuten später recht gemütlich, eingehüllt in ein Hoodie und meinen Schlafsack, auf meiner Pritsche.

Da sich bisher niemand anderes in unserem Abteil eingefunden hat, lagern wir unser großes Gepäck auf einer der unteren Pritschen – die Verwendung des mitgebrachten Fahrradschlosses zum Anketten unserer Taschen kommt uns übertrieben vor – ziehen die Vorhänge zum Gang zu und löschen das Licht. Den kleinen Rucksack mit Wertgegenständen verstaue ich neben meinem Kopfkissen.

Erstaunlich schnell schaukelt mich der Zug in den Schlaf, nur hin und wieder werde ich wach, wenn er an einem Bahnhof hält und Leute ein- und aussteigen. Irgendwann wird sogar die Heizung angestellt und mir ist nicht mehr so kalt.

Erst am Morgen werden wir unsanft geweckt, als plötzlich der Schaffner im Abteil steht, das Licht einschaltet und brüllt: „Which seats do you have?“ Ich antworte verschlafen „38 and 39“ und Daniel blafft ihn an „Is this relevant?“. Mit einem „You are using the wrong bed!“, stürmt er aus dem Abteil und wurde nie wieder gesehen. Ich reibe mir die Augen. Immer wieder erstaunt uns in Indien die Art und Weise des Umgangs der Menschen untereinander. Rücksichtnahme und Höflichkeit scheinen für viele Fremdwörter zu sein.

Am Morgen

Ein Blick auf mein Handy verrät mir, dass es schon 7 Uhr morgens ist. Ich bin überrascht tatsächlich sieben Stunden am Stück geschlafen zu haben. Auch Daniel ist einigermaßen erholt und wir schälen uns aus unseren Schlafsäcken.

Erstmal einen Schnaps 😀 Ja, wirklich! Wir haben es uns seit einiger Zeit auf Reisen angewöhnt morgens, auf nüchternen Magen, einen Schluck Schnaps – selber angesetzt mit einem Liköransatz von Leaves & Berries auf der Basis von Wodka – zu uns zu nehmen. Vielleicht ist es der Placebo-Effekt, aber seitdem haben wir keine Magen- oder Verdauungsprobleme mehr auf Reisen.

Und hungrig sind wir auch. Da bisher niemand Offizielles mit etwas Essbarem am Abteil vorbei gekommen ist, greifen wir auf unsere Packung Knäckebrot und mitgebrachte Müsli Riegel zurück. Es sind ja nur noch etwa 3-4 Stunden bis zur Ankunft in Varanasi, denken wir.

Zum ersten Mal checkt Daniel in der App „Maps.me“ mit Hilfe von GPS die Position unseres Zuges. Wenn man das entsprechende Kartenmaterial heruntergeladen hat, kann man die gesamte Strecke sowie alle Halte verfolgen und die Entfernung zum Zielort berechnen. Da es in indischen Zügen keinerlei Ansagen gibt, ist das für die Suche nach der Station, wo man aussteigen möchte, ziemlich nützlich.

Daniel wundert sich und zeigt mir unseren aktuellen Standpunkt. Angeblich sind es noch knapp 300 Kilometer bis Varanasi. Wie kann das sein, dass wir erst etwas mehr als die Hälfte der Gesamtstrecke zurück gelegt haben, wenn wir in etwa drei Stunden ankommen sollen? Ich ahne, dass die App uns nicht belügt…

Nichts geht mehr – Zughalt auf freier Strecke

Drei Stunden später gegen 11Uhr, noch 180 Kilometer bis Varanasi, geht nichts mehr. Unser Bundelkhand-Express steht auf freier Strecke, die Türen sind geöffnet und alle Menschen strömen aus dem Zug. Es wird sich gewaschen, die Zähne werden geputzt, es wird geraucht und gepinkelt. Als ich mich, an einer der Türen stehend, nach draußen schauend frage, was diese Leute wohl machen, wenn der Zug plötzlich weiter fährt, ahne ich noch nicht, dass wir zwei Stunden später von Langeweile getrieben auch aussteigen werden.

Daniel traut sich mit seiner Kamera als erstes, ich warte noch im Abteil. Wir sind die einzigen weißen Touristen im gesamten Zug und irgendwie möchte ich nicht die Aufmerksamkeit von hunderten Indern auf mich ziehen. Als er 20 Minuten später zurück ist, war er zwar nicht draußen und hat auch kein Foto geschossen, hat aber dafür mit fünf jungen Indern im Nachbarwaggon eine Flasche Rum kreisen lassen und Bruderschaft getrunken. Na prima…wenigstens einer von uns hat Spaß.

Mich beschäftigt währenddessen eher die Frage, weshalb wir eigentlich hier stehen. Wird es jemals weiter gehen? Ich mache mich auf die Suche nach einer Antwort und treffe auf dem Flur eine junge Inderin, die mir erklärt, dass es im nächsten Bahnhof ein Signalproblem gebe, weshalb vier Folgezüge auf der Strecke festhingen. Keiner weiß, wann es weiter geht.

Okay, scheiß auf die Blicke, scheiß auf den Dreck und die Gefahr auf den Gleisen, ich muss hier raus! Draußen kann man sich immerhin etwas bewegen und die Sonne genießen. Zurück in unserem Abteil berichte ich Daniel von den Neuigkeiten, und nun klettern auch wir aus dem Zug auf die Gleise. Wie angenehm es ist, nach 17 Stunden frische Luft zu atmen und die Sonne auf der Haut zu spüren.

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Zughalt auf freier Strecke.

Plötzlich ertönt das Zug-Horn. Ist das etwa ein Zeichen dafür, dass es weiter geht? Schnell laufen wir zu einer der Türen und hangeln uns zurück in den Zug. Und tatsächlich, „schon“ setzt er sich in Bewegung. Wir kehren zurück in unser Abteil und sind erleichtert. Vielleicht erreichen wir Varanasi ja doch noch gegen Nachmittag.

Weiterfahrt

Ich muss wohl eingenickt sein. Als ich aufwache, hat Daniel inzwischen Kopfschmerzen vom Rum und meint außerdem Fieber zu bekommen…auch das noch! Er sieht wirklich nicht gut aus :/ Zum Glück haben wir eine kleine Reiseapotheke dabei und er kann eine Aspirin einwerfen.

Derweil bewegt sich der Bundelkhand-Express im Schneckentempo voran. Immer wieder bremst er ab und bleibt ohne ersichtlichen Grund stehen, fährt erst Minuten später wieder an. Uns war im Vorhinein bekannt, dass es in den Wintermonaten, vor allem in Dezember und Januar, zu erheblichen Verspätungen wegen Nebels kommen kann. Doch gerade ist es hell und es herrscht völlig klare Sicht, und wir haben ja bereits eine Verspätungen von fünf Stunden angesammelt. So langsam liegen die Nerven blank. Die Vorstellung, noch den gesamten restlichen Tag in diesem Abteil verbringen zu müssen, macht uns mürbe.

Mir war klar, dass Daniel diese Zugfahrt eigentlich sowieso nicht wollte, nun ist er auch noch im Begriff, krank zu werden, das macht die Situation nicht leichter. Wir mümmeln eine weitere Runde Knäckebrot…

Ankunft in Allahabad

Nach weiteren zähen Stunden und gefühlten hunderten Dörfern, in denen unser „Express“ wie der schlimmste Bummelzug überall hält, erreichen wir gegen 16 Uhr endlich Allahabad, 100 Kilometer vor Varanasi.

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Unser Zug im Bahnhof von Allahabad.

Daniel hat sich inzwischen ein Datenpaket für sein Handy gekauft und versucht irgendwie unseren Fahrer, der uns in Varanasi am Bahnhof abholen soll, dazu zu bewegen, in Allahabad einen anderen Fahrer aufzutreiben, der uns von hier mitnehmen könnte, damit wir endlich aus diesem „Scheiß-Zug“ rauskommen. Vergebens!

Auf dem Bahnsteig herrscht reges Treiben, hier könnte man durchaus etwas zu Essen kaufen. Ich versuche herauszufinden, wann der Zug weiterfährt, kann aber keine Information auftreiben. Weder aus dem, was ich durch den Lautsprecher höre, noch dem, was auf der Anzeigetafel steht. Und auch unser „freundlicher“ Schaffner ist seit Stunden unauffindbar.

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Bahnsteig in Allahabad.

Nach einer weiteren Stunde, der Zug hat sich währenddessen keinen Millimeter aus dem Bahnhof bewegt, frage ich eine Frau, die soeben zugestiegen ist und es sich mit ihrem Laptop im Abteil bequem macht, ob sie mir sagen kann, wann der Zug weiterfährt. Mit einer Seelenruhe schaut sie mich an und erklärt mir, dass der Zug irgendwann fahre und dass wir Varanasi erreichen werden. Es gebe viele Verspätungen wegen Nebels. Dann wendet sie sich wieder ihrem Laptop zu. Ich bin fassungslos! Wie schaffen es die Inder, so eine Ruhe zu bewahren und die Dinge mit solcher Gleichgültigkeit und Gelassenheit hinzunehmen…? So viel meditieren kann man gar nicht, denke ich. Inzwischen wird es dunkel.

Letzte Etappe & Ankunft Varanasi

Gegen 17.30 Uhr setzt sich der Bundelkhand-Express endlich wieder in Bewegung und wir gehen die letzten 100 Kilometer Strecke an. Die Hoffnung, Varanasi vor dem Abend zu erreichen und wie geplant die Aarti Zeremonie am Ganges mitzuerleben, haben wir für heute längst aufgegeben. Wir zählen stattdessen die bis Varanasi verbleibenden 12 Stationen rückwärts. Jedes Anhalten des Zuges fühlt sich endlos an, wir ertragen es resigniert. Daniel murmelt etwas von Alptraum, wir dösen ein, werden wieder wach, Hunger haben wir längst keinen mehr. So muss sich Gefängnis anfühlen, stelle ich mir vor.

Um 22Uhr erreichen wir Varanasi nach 26-Stunden-Reise mit 11-stündiger Verspätung.

Fazit:

Wie ihr meinen Zeilen entnehmen könnt, haben wir den Trip als kleine Reisehölle empfunden und werden so bald wohl keinen indischen Nachtzug mehr besteigen. Ich glaube allerdings, es hat uns ziemlich extrem erwischt und man kann durchaus recht angenehm mit dem Zug in Indien unterwegs sein, v.a. zu einer anderen Jahreszeit. Da Busse und Autos ähnliche Verspätungen anhäufen, ist man in einem Zug vielleicht sogar noch ganz gut aufgehoben.

Ein Erlebnis ist es allemal! Von diesem unvergesslichen Trip werden wir wohl noch unseren Enkeln berichten 😀

Noch zu meinen Anfangs-Fragen: Es gab keine Kakerlaken in unserer Klasse und das Klo ist fies, aber benutzbar. Im empfehle feuchte Tücher und Desinfektionsspray!

Wissenswertes:

Strecke? Gwalior (GWL) → Varanasi (BSB), 624 Kilometer

Zugname? Bundelkhand-Express

Zugklasse? 2 AC Tier, die zweitbeste von insgesamt 8 indischen Zugklassen

Preis? 2720 Rs für 2 Personen, das sind umgerechnet ca. 35€

Mahlzeiten? Auf dieser Strecke werden KEINE Mahlzeiten serviert!

nützliche App? Maps.me. Damit habt ihr einen Überblick über die Strecke und Haltestellen, da es in indischen Zügen KEINE Ansagen gibt!

Lesetipp: Franzi und Matthias vom Reiseblog „Spontan um die Welt“ haben einen super informativen Beitrag über das Zugfahren in Indien – Tipps und Tricks zusammengefasst. Und auch Fabian von Punka.Tours hat seine Erfahrungen zum Thema Ticketkauf, Zugklassen etc. in einen Beitrag gepackt.

Warst du auch schon einmal mit dem Nachtzug in Indien unterwegs? Wie war deine Erfahrung? Oder hast du noch Fragen?
Hinterlasse mir gerne einen Kommentar. Deine Julia

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Zugfahren in Indien